Mehr Muskeln? Oder mehr Wahrnehmung?

Vor meinem letzten Bühnenauftritt als Tänzerin habe ich mir zum ersten Mal ganz konkret die Frage gestellt: Welche Art von Training brauche ich, um dafür fit zu sein? Ich hatte keine Zeit täglich ein Tanztraining in Zürich zu besuchen (in Winterthur gab es zu wenig passende Angebote). Denn neben der Erarbeitung des Stücks (Solo, 15–20 min) war ich mit meiner Feldenkrais-Praxis beschäftigt.

Ich musste gut überlegen, welche Qualitäten ich benötige und wie ich diese bis zum Auftritt am effizientesten verbessern kann. Ich wollte also einen maximalen Nutzen mit minimalem Aufwand erreichen. Die Kernkompetenz einer Feldenkrais Spezialistin war also gefragt.

Trotz zunehmendem Alter fit für den Alltag zu sein – das ist das Thema der meisten meiner Klientinnen und Klienten. 

Immer wieder höre ich von ihnen, dass ihr Arzt ihnen gesagt hat, sie hätten zu wenig Muskeln. Diese im Alltag oft gebrauchte Formulierung, bezogen auf die Anzahl, zeigt, wie undifferenziert dieses Thema betrachtet wird. Denn eigentlich geht es um Muskelmasse und deren effiziente Nutzung. Es geht um gut koordinierte Muskulatur, die wann immer notwendig angespannt und wieder losgelassen werden kann.

Im Studium (CAS DS: Motorisches Lernen & Training, ISPW Unibe) zeigte uns ein Dozent Übungen für Krafttraining mit dem eigenen Körpergewicht und den Dead Lift (heben einer Langhantel im Stehen/ „Kreuzheben“).

Eine Übung erforderte neben Kraft auch viel Beweglichkeit im Brustkorb sowie eine gute Gesamtkoordination. Die fand ich am einfachsten, manche Profitänzerin eher schwierig! Auch der Dead Lift war eine spannende Erfahrung: Ich spürte, wie sich alle Knochen ausrichteten, um das Gewicht ideal zu tragen und möglichst wenig Muskelkraft zu brauchen.

Diese Erfahrungen führten mich zu der Frage: Muss vor dem Kraftaufbau nicht erst die Koordination geklärt werden? „Ja”, bestätigte der Dozent sehr beiläufig. Innerlich kommentierte ich: Der hat keine Ahnung, wie viel Unterschied eine bessere Koordination ausmachen kann!

Auch die Eigenwahrnehmung (Propriozeption) trägt entscheidend zur Verbesserung der Koordination bei. Die Propriozeption ist die Wahrnehmung unserer Körperposition im Raum. Je genauer diese ist, desto genauer stimmt unsere innere Wahrnehmung mit dem überein, was andere von aussen beobachten können. Je besser die Propriozeption, desto feiner kann die Koordination werden.

Eine grössere Muskelspannung verändert die Eigenwahrnehmung und führt zu einer grösseren Differenz zwischen dem inneren Bild und der tatsächlichen Position. Dies wiederum kann Überforderung, Verspannungen, Scherkräfte und zusätzliche Schmerzen begünstigen. „Mehr Muskeln“ kann auch negative Auswirkungen haben!

Über zwei Jahrzehnte habe ich intensiv Tanz trainiert, über zehn Jahre auch Aikidō. Ein Training von mindestens 90 Minuten pro Tag war eher Regel als Ausnahme. Dennoch sah ich mich nie als Sportlerin, da bei beiden Disziplinen andere Aspekte im Vordergrund stehen. Dazu gehören unter anderem die stetige Verfeinerung der Propriozeption und der Koordination.

Zur Vorbereitung auf meinen letzten Auftritt investierte ich in meine Mobilität – allerdings nicht durch Dehnen, sondern wiederum durch Verfeinerung der Eigenwahrnehmung und der Koordination. Zusätzlich investierte ich ein bisschen in die Verbesserung von Ausdauer und Stamina.

Mobilität und etwas Ausdauer sind auch im Alltag am wichtigsten. Damit man ohne Probleme den Weg zum nächsten Supermarkt oder zwei, drei Stockwerke zu Fuss zurücklegen kann, sich ohne Anstrengung bücken kann, wenn man was fallen lässt und keine Angst hat sich auf den Boden zu legen oder setzen, weil man weiss, dass man ohne Mühe wieder hochkommt.

Braucht es dafür wirklich „mehr Muskeln“?

Zur Erinnerung: Vor dem Kraftaufbau braucht es Koordination.

Ich erlebe immer wieder, wie erstaunt Menschen sind, wenn sie sehen, wie viel sich verändern kann, wenn man an der Koordination arbeitet!

Was das bedeutet kann in jeder Feldenkrais-Lektion erfahren werden. Nach Privatlektionen werde ich manchmal gefragt: „Weshalb kann ich den Arm besser heben, wenn du kaum etwas mit Schulter und Arm gemacht hast?“ In Gruppen mag es erstaunen, dass die gleiche Lektion bei allen positive Auswirkungen hat, obwohl alle unterschiedlichen Themen mitbringen.

Wenn der Fokus auch nach innen gerichtet ist und nicht allein auf die äussere Form, eröffnen sich neue Welten. Das ist für mich der Kern von Bewegungsarbeit und der beste Weg zu nachhaltigem, umfassendem Wohlbefinden.